Und jetzt kommt meine eigentliche Frage: Ich würde gern wissen, wie stark die psychologische Therapie sich auf die zwischenmenschlichen Beziehungen des Betroffenen auswirkt. Klar ist mir natürlich, daß gewisse Menschen auf der Strecke bleiben müssen, es ist eben notwendig, auch egoistisch zu sein. Mir hat man eine psychologische Therapie im Falle von Transsexualität mal so erklärt, dass es notwendig ist, die unter all den Eindrücken des Lebens im falschen Körper entwickelten Verhaltensweisen und Charakterzüge zuerst abzulösen, um sozusagen die echte Person zum Vorschein zu bringen. Stimmt das? Wie funktioniert so eine Therapie, wenngleich ich mir natürlich im Klaren darüber bin, daß die bei jedem und jeder anders aussieht.
Hallo Emma,
ich versuche einfach mal aus meiner Erfahrung heraus zu antworten, kann aber auch nur für mich selber sprechen.
Hm, was heißt Verhaltensweisen und Charakterzüge ablösen, mir selber ist es nie so vorgekommen, als daß man versucht hätte, mich in meinem Verhalten zu ändern. Hätte ich auch ganz übel genommen. Denn ich entscheide selber, wie ich mich wann, wie und wo verhalte. Falls aber bei Dir damit gemeint war, daß man erstmal den Punkt erreichen muß, mit seiner Vergangenheit Frieden zu schließen, sich selber als ganzen Menschen inkl. seiner Vergangenheit anzunehmen und sich selber lieben zu lernen, dann stimme ich zu. Es hat bei mir lange gedauert, bis ich meine Vergangenheit annehmen konnte und mich nicht mehr für sie geschämt habe. Bis ich sie als ein Teil von mir angenommen habe. Denn meine Vergangenheit macht mich zu dem Menschen, der ich heute bin, ohne diese wäre ich nur ein halber Mensch und mittlerweile bin ich verdammt stolz darauf, mehr erfahren zu haben, als es jedem Biomann möglich wäre. (Bin FzM)
Aber es hat wie gesagt lange gedauert. Erst nachdem ich die weiblichen Innereien sowie die weibliche Brust weg hatte, konnte ich mich so langsam damit arrangieren, zumal ich dann mit der Zeit auch immer mehr Abstand zum Thema TS bekommen habe und vieles aus einem anderen und neuen Blickwinkel betrachten konnte.
Solange man für sich selber den Eindruck hat, daß nichts voran geht, auch wenn man schon in Therapie ist, sind wohl die meisten von uns ziemlich überempfindlich und bekommen vieles sehr oft in den falschen Hals. Man vermutet dann einfach hinter jedem Busch einen Mann mit Messer. Mir ging es so. Ich habe jede Kontaktstille, auch wenn sie im nachhinein nur Zufall war, immer als Ablehnung meiner Person, meiner TS empfunden und das tat verdammt weh, man kämpft so sehr um Akzeptanz seiner "neuen" Identität und dann sowas. Dementsprechend habe ich reagiert und auch oft auf sturr gestellt. Ich war halt so verletzt, daß ich erstmal nichts mehr mit dieser Person zu tun haben wollte. Reiner Schutzmechanismus. Auch wenn es im nachhinein völlig unbegründet war.
Und erst als ich selber bissel Abstand von der Sache bekommen habe, habe ich auch wieder die Kraft gefunden, den ein oder anderen Kontakt wieder langsam aufzubauen und evtl. Mißverständnisse aufzudecken und beiseite zu räumen. Aber während der Transition hatte ich einfach nicht die Kraft dazu. Sie verschlingt so unendlich viel Energie, daß man die anderen Dinge nur noch so eben am Leben erhält. Bei mir war es z.B. der berufliche Bereich. Ich habe dort nur soviel Energie reininvestiert, daß mich das AA nicht irgendwie gesperrt oder die Zahlungen verringert hat und auch sonst mein alltägliches Leben unabhängig von TS noch irgendwie weiterlief. Ok, ich habe fast zeitgleich zur Transition eine Umschulung gemacht, diese auch bestanden, tat mir selber irgendwo auch gut, weil ich so erstens nicht auf dumme Gedanken gekommen bin und zweitens nicht die Möglichkeit hatte mich totzugrübeln und so mein Hirn zu zermartern. Aber mehr Energie hätte ich dort nicht investiert, weil die Transition schon sehr viel davon eingefordert hatte. Aber wenn man immer sein Ziel und Etappenziele vor Augen hat, und weiß wofür man den ganzen Mist durchsteht, dann schafft man auch das.

Die zweite Frage betrifft den Stellenwert der eigenen Transsexualität. Zweifellos muss sie eine zentrale Rolle spielen. Aber wie empfinden es nun Transsexuelle selbst? Gibt es noch andere Themen? Werden alle zwischenmenschlichen Belange zwangsläufig damit in Verbindung gesetzt, selbst wenn sie damit rein gar nichts zu tun haben? Natürlich ist das von Person zu Person verschieden, aber gibt es soetwas wie eine Tendenz?
Ich weiß, dass diese Fragen etwas naiv sind. Ich hoffe trotzdem, daß vielleicht die eine oder der andere Lust hat, zu schreiben. Danke. Emma
Hm, ich denke, nun habe ich diese Frage schon automatisch oben beantwortet. Ist halt alles irgendwie miteinander verknüpft. Sicherlich gibt es auch andere Themen, mit denen man sich beschäftigt, aber je nach Phase der Transition stehen sie entweder eher hinten an oder liegen wieder eher im Vordergrund, es ist auch von Person zu Person verschieden. Bei mir war es eher ein auf und ab. Wenn ich mal keine Klausuren schreiben mußte und somit nicht so intensiv lernen mußte, habe ich mich wieder mehr auf den TS-Weg konzentriert. Mein Ziel war es, das alles irgendwie unter einen Hut zu bekommen, was ich auch geschafft habe, aber es war schon kräftezehrend. Und in den Phasen, wo TS wichtiger für mich war als alles andere, standen die anderen Dinge natürlich hinten an.
Aber ich bin auch an diesem Weg gewachsen und habe erkannt, daß ich viel mehr Kraft und Durchhaltevermögen besitze als so manch anderer Mensch. Manch anderer wäre an meinem Weg (
und ich habe sehr viel durchmachen müssen und mich immer wieder an meinem eigenen Haarschopf aus der Scheiße ziehen müssen - weil ich in den wichtigen Momenten niemanden hatte, der mir beiseite stand) regelrecht zerbrochen.
Mittlerweile habe ich eine so große Gelassenheit entwickelt, daß es mir einfach nur noch shitegal ist, was andere über mich denken, hauptsache ich bin glücklich. Auch das hat bei mir gedauert, bis ich ein gesundes Maß an Egoismus entwickeln konnte.
Was Beziehungen betrifft: Es hat nur den Anschein, als ob sie damit nichts zu tun haben, aber sie haben eine Menge damit zu tun (für einen selber). Man kann sie von TS nicht ausschließen. Denn ich als Mensch lebe ja, ich bin ja da. Und ich möchte ja in jeder zwischenmenschlichen Beziehung, egal wie oberflächlich oder tief sie sein mag, als der akzeptiert und wahrgenommen werden, der ich im Herzen bin. Solange der / die TS kein gutes Passing hat und andere Menschen einen noch von früher kennen, wird das immer ein Thema sein. Neue Beziehungen, die erst mit beginnendem Passing bzw. nach fortschreitender oder vollendeter Transition beginnen ohne Kenntnis der jeweiligen Vergangenheit, haben einen ganz anderen Stellenwert. Für mich persönlich sind die Beziehungen wichtiger als alles andere, denn dort werde ich unvoreingenommen als Mann wahrgenommen und akzeptiert und einfach stinknormal behandelt. TS ist dort kein Thema (mehr) und ich werde den Teufel tun, mich dort zu outen. - Ich lebe mittlerweile weitgehend "deep stealth" und genieße es, in der "Normalität" angekommen zu sein und einfach mein Mann-sein ohne Hindernisse (aus)leben zu können. Ok, ich würde lügen, wenn ich behaupten würde, daß ich meinen "Wissensvorteil" aufgrund meiner Vergangenheit nicht nutzen würde, denn das tue ich und zwar schamlos, aber ich habe gelernt, es so gut zu verpacken, daß niemand mehr irgendwas von meiner Vergangenheit vermutet.

Was Deine Schwester betrifft, versuche doch einfach mal ihr einen Brief zu schreiben, den kann sie nicht einfach so "auflegen" wie einen Hörer und dort das Mißverständniss zu klären. Briefe können manchmal wahre Wunder bewirken, aber eine Garantie gibt es leider auch dort nicht.
Jetzt habe ich sehr viel geschrieben, aber das Thema ist so komplex, daß es mit einem einzigen Satz nicht getan ist. - Für Deine Schwester wünsche ich Dir alles Gute und viel Glück und die Kraft, den Weg durchzustehen.